Viele Besucherinnen und Besucher Lettlands kennen die Schokoladenmarke Laima – und den beliebten Treffpunkt im Zentrum Rigas, die Laima-Uhr. Laima-Produkte gehören seit den 1920er Jahren zu den Exportschlagern Lettlands. Weitgehend unbekannt ist jedoch, dass die Laima-Gründer jüdische Unternehmer waren.
Einleitung
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Die Laima-Uhr im Zentrum der lettischen Hauptstadt ist eines der Wahrzeichen . Viele Lettinnen und Letten verabreden sich gerne an dem allseits bekannten kleinen Uhrentürmchen, das schon seit Ende der 1930er Jahre Reklame für Lettlands bekannteste Schokoladenmarke Laima ziert. Das war allerdings nicht immer so. In den 1920er Jahren hatte die bereits 1870 von dem Deutschbalten Theodor Riegert gegründete Schokoladenfabrik Riegert die Uhr für ihre Reklame gemietet. 1936/37 wurden jedoch sowohl Riegert als auch Laima verstaatlicht und als Staatsfirma unter dem einheitlichen Namen Laima fusioniert – letzteren zog der neue Firmeninhaber, der lettische Staat, vor. Er leitet sich vom lettischen Wort „laime“ ab, was „Glück“ bedeutet. Und so wurde aus der Riegert-Uhr die Laima-Uhr.
Jüdische Firmengründung im multi-kulturellen Riga nach dem Ersten Weltkrieg
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Nach dem Ersten Weltkrieg war Riga eine multi-kulturelle Stadt. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung nahm nach dem Ersten Weltkrieg zu, sowohl prozentual als auch in absoluten Zahlen. Da Riga nicht zum traditionellen jüdischen Ansiedlungsbezirk im 
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

 gehörte, hatte es historisch keine sehr große jüdische Bevölkerung. Dies änderte sich erst, als die Regierung unter Zar Alexander II. (1855–1881) die Ansiedlung von gut ausgebildeten Juden in russischen Städten vereinfachte. So stieg der Anteil der Jüdinnen und Juden laut der Rigaer Volkszählung von 1913 auf sieben Prozent.1  Der Bürgerkrieg nach der Russischen Revolution (1917–1921), die anhaltenden Versorgungsprobleme in der jungen Sowjetrepublik sowie das Vorgehen sowjetischer Sicherheitsorgane gegen die ehemalige bürgerliche Oberschicht führten zu starken Migrationsbewegungen. Deshalb kehrten viele während des Ersten Weltkrieges aus Riga nach Russland evakuierte Jüdinnen und Juden zurück. Zusätzlich dazu kamen auch jüdische Flüchtlinge aus benachbarten russischen Provinzen nach Lettland. So stieg der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung Rigas bis 1925 auf 11,68 Prozent.2  
Die Hauptstadt der neugegründeten, demokratischen Republik Lettland bot gerade Kaufleuten und Unternehmern vielfältige Möglichkeiten. Die jüdische Minderheit in Lettland hatte in den 1920er Jahren einen wichtigen Anteil an der Wiederbelebung der lettischen Exportwirtschaft und Industrie. Diese hatte durch den Krieg erhebliche Einbußen und Zerstörungen hinnehmen müssen: Die Blockade der Ostsee während des Ersten Weltkriegs hatte jeglichen Handel untergraben und die gesamte Rigaer Industrie war 1915 von der russischen Militäradministration evakuiert worden. Die Mehrzahl der evakuierten Maschinen kehrte nie zurück, weshalb Rigas Industrie nach dem Ersten Weltkrieg faktisch fast bei null anfangen musste. Jüdische Unternehmer spielten eine herausragende Rolle im Wirtschaftsleben der jungen Republik Lettland. 48% der Handelsunternehmen und 26% der Industrieunternehmen in Lettland waren 1925 in jüdischer Hand.3  Insofern stellt das Beispiel Laima keine Ausnahme dar, sondern ist für die lettische Wirtschaft der 1920er geradezu beispielhaft.
Die Firma Laima wurde 1921, streng genommen sogar erst 1925 in Riga gegründet. Ursprünglich hieß das Unternehmen Makedonija. 1925 nannten die Firmengründer die Süßwarenmarke in Laima um, vermutlich, um ihr in der Republik Lettland ein höheres Ansehen und ihren Produkten mit einem lettisch klingenden Namen größeren Absatz zu verschaffen. Laut den Statuten von 1925 war Laima eine Aktiengesellschaft, die das Ziel verfolgte, eine „Schokoladen-, Süßwaren- und Konfektfabrik zu betreiben“ sowie „mit eigenen und fremden Schokoladen-, Süßwaren- und Konfektprodukten in Lettland und im Ausland zu handeln.“4
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Bei den sechs Firmengründern von Laima handelte es sich um fünf jüdische und einen deutschbaltischen Unternehmer. Alle sechs waren Staatsbürger Lettlands: David Moschewitsch (Dāvids Moševičs), Gerson Preil (Gersons Preils), Jakob Ahrens (Jēkabs Ārens), Elja/Ilja Fromtschenko (Ilijas Fromčenko), Ilja Kopilow (Iljas Kopilovs) und Joseph Segall (Josifs Zegals).5  David Moschewitsch fungierte als Geschäftsführer und Direktor der Laima-Fabrik. Er stammte aus der Region um 
Bauska
pol. Bowsk

Bauska ist eine Stadt im Süden Lettlands, nahe der Grenze zu Litauen. Sie hat knapp 10.000 Einwohner.

 und war am Ende des Ersten Weltkriegs als Kriegsflüchtling nach Riga gekommen. Elja Fromtschenko kam aus der Region 
Pskov
rus. Pskow, deu. Pleskau, lav. Pleskava, est. Pihkva, rus. Псков, deu. Pleskow

Pskov wurde erstmals 903 erwähnt und ist somit eine der ältesten Städte Russlands. Pskov war ein bedeutender Handelsplatz und besass eine Niederlassung der Hanse. Unter Peter I. wurde sie zur Festungsstadt ausgebaut. Pskov und die Pskover Region sind heute landwirtschaftlich und handwerklich geprägt, wobei Pskov überregional als religiöses Zentrum gelten kann.

Historische Orte
Pskow
 
. Joseph Segall und Gerson Preil wurden in Riga geboren. Die Herkunft von Ilja Kopilow lässt sich nicht ermitteln. Jakob Ahrens war gebürtiger Rigenser und gehörte der deutschbaltischen Minderheit an.
Die Aufnahme von Jakob Ahrens als einzigem deutschbaltischen Hauptaktionär mag zunächst verwundern – laut seinem lettischen Pass war Ahrens gelernter Buchhändler.6  Ein Blick in das Ausweisdokument zeigt, dass Ahrens viel reiste, besonders ins benachbarte Estland. Möglicherweise arbeitete er für Laima zugleich als Vertreter. Aufgrund der engen Verflechtungen, insbesondere der drei historischen baltischen Provinzen Estland, Livland und Kurland, sowie der jahrhundertelangen, herausragenden Stellung des Deutschen als Sprache der Oberschicht, diente Deutsch in der Zwischenkriegszeit oft noch als Verkehrssprache und wurde bei grenzübergreifenden, bilateralen Kontakten genutzt. Möglicherweise verfügte Ahrens auch über frühere wirtschaftliche Kontakte nach Estland, die für Laima nützlich waren.
Eine lettländische Süßwarenfabrik mit jüdischen Eigentümern und globalen Handelspartnern
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Die Süßwarenfabrik Laima entwickelte sich in den ersten Jahren ihres Bestehens sehr positiv. Bereits vor ihrer Verstaatlichung 1936 beschäftigte die Firma zwischen 500 und 600 Arbeiterinnen und Arbeiter und hatte einen Jahresumsatz von 2,2 Millionen Lats (ca. 440.000 Dollar), was nach heutigen Wert ca. 9,4 Millionen Dollar entspricht.7  Das machte Laima zu einem der größten und erfolgreichsten Unternehmen in Lettland. Es gab in allen größeren lettischen Städten spezielle Laima-Verkaufsfilialen. Die Verbreitung ihrer Produkte unterstützten die Firmeninhaber durch umfangreiche Werbung in Form von Hochglanzplakaten. Auf den Verpackungen waren die Sehenswürdigkeiten lettischer Städte abgebildet oder auch eine Karte Lettlands. Damit förderte Laima bewusst die Identifikation seiner Kundinnen und Kunden mit dem noch jungen Nationalstaat, dem sich offenbar auch die jüdischen und deutschen Firmeneigentümer verbunden fühlten.
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Von Beginn an fasste Laima darüber hinaus den Absatz im Ausland ins Auge. Wichtige Abnehmer waren das Vereinigte Königreich, Südafrika, die Niederlande, Marokko, Frankreich, Schweden und die USA.8  Aus den historischen Unternehmensakten geht hervor, dass die Laima-Firmenleitung dabei oft auf Kontakte zu jüdischen Händlern in diesen Ländern zurückgriff. London war traditionell Rigas wichtigster Handelspartner. Der zweitwichtigste Umschlagplatz war Hamburg. Aus den Akten ist jedoch auch ersichtlich, dass die Firmenleitung von Laima nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 die Verschiffung ihrer Produkte über den Hamburger Hafen einstellte. Laima versuchte sich jetzt noch stärker auf Absatzmärkte auszurichten, die über den Londoner Hafen zu erreichen waren.
„Lettland den Letten“: Die Nationalisierung von Laima 1936 und der Verbleib der Firmengründer
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Als Folge der Weltwirtschaftskrise von 1929 gerieten viele Firmen in Lettland in finanzielle Schwierigkeiten, vor allem zu Beginn der 1930er Jahre. Die Firma Laima hatte ihre Produktionsstätte in der Karolines iela 22/24 (ab 1937: Miera iela 22), rund zwei Kilometer nordöstlich der historischen Altstadt und des ikonischen kleinen Uhrenturms, der ihren Namen zierte. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte die Kölner Firma 4711 von Ferdinand Mülhens dort ihr Eau de Cologne und weitere Parfüm- und Seifenprodukte für den russischen Markt produziert. Das Fabrikgelände befand sich nach dem Krieg im Besitz der Familie Beaucamp aus Kassel, die es an die Laima-Firmengründer weiterverkaufte. Da die Laima-Firmenleitung nur die Hälfte des Kaufpreises aufbringen konnte, einigte man sich auf eine halbjährliche Abzahlung in Form von Obligationen, jeweils 10.000 Lats, inklusive Zinsen.
Nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise schränkte der lettische Staat die Möglichkeiten, Geld ins Ausland zu transferieren, immer stärker ein. Damit sollte die eigene Währung gestützt werden. Laima erhielt 1934 von der lettischen Staatsbank Latvijas Banka schließlich keine Genehmigung mehr, seine Schulden im Ausland zu bedienen.9  Zudem hielt Lettland bis September 1936 den  Goldstandard Goldstandard Der Goldstandard entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. zur dominierenden Währungsordnung. Nationale Notenbanken legten Goldreserven an, die den Wert ihrer Währung stabilisierten. Normalerweise mussten die Notenbanken einen Goldvorrat halten, der einem Drittel der im Land umlaufenden Münzen und Geldscheine entsprach. Nach dem Ersten Weltkrieg führten die meisten der neugegründeten Staaten Ostmitteleuropas den Goldstandard für ihre neuen Nationalwährungen ebenfalls ein, so auch Lettland für die lettische Währung Lats. In Folge der Weltwirtschaftskrise löste sich das Währungssystem des Goldstandards Anfang der 1930er Jahre allmählich auf, da dieser finanzpolitische Gegenmaßnahmen massiv erschwerte. 1931 gab Großbritannien den Goldstandard auf, andere Länder folgten. Lettland, das sich finanzpolitisch an Frankreich und der Schweiz orientierte, hielt als eines der letzten europäischen Länder noch bis 1936 am Goldstandard fest.  aufrecht und lehnte eine Abwertung seiner Währung Lats ab. Währenddessen werteten aber Großbritannien und fast alle anderen europäischen Staaten ihre Währungen ab, um die Exportwirtschaft zu stützen. Dies erhöhte den Wert des Lats und verteuerte lettische Produkte im Ausland. Der Preis für lettische Schokolade war daher nun für Abnehmer fast doppelt so hoch. So beschwerten sich The Continental Chocolate Supply Co. aus Cape Town, Südafrika am 4. August 1933:
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„Die in Ihrem Schreiben vom 4. Juli erwähnten 23 Kisten sind hier in guter Beschaffenheit eingetroffen, wurden jedoch zu einem zu hohen Kostenpreise infolge Ihrer erhöhten Preise gelandet. Wir sehen ein, dass dieses gegenwärtig ein Umstand ist, dem nicht zu helfen ist, jedoch hoffen wir, dass dieser Umstand durch das Aufgeben der Goldbasis [Goldstandard] auch Ihres Landes, wie das in Estland geschehen ist, richtiggestellt werden wird. Wie die Dinge sich gegenwärtig verhalten, haben wir auf Ihren Artikeln, genau gesprochen, keinen Verdienst zu verzeichnen.“10

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Am 15. Mai 1934 erfolgte in Lettland ein Staatsstreich, in dessen Verlauf sich Ministerpräsident Kārlis Ulmanis mit autoritären Vollmachten ausstattete. Nach der Abschaffung der demokratischen Strukturen verfolgte das Ulmanis-Regime das Ziel, die wichtigsten Wirtschaftszweige zu verstaatlichen. Unter dem Motto „Lettland den Letten“ war die Regierung bestrebt, nicht nur – wie bisher – Politik, Wissenschaft und Kultur, sondern auch die Wirtschaft Lettlands in die Hände von ethnischen Lettinnen und Letten zu bringen. 
Um sich mit Geld zu versorgen und ihre Zinsen auf die noch fälligen Obligationen im Deutschen Reich zu bedienen, war die Laima-Firmenleitung ab Mitte der 1930er Jahre immer stärker gezwungen, mit staatseigenen lettischen Banken wie der Latvijas Kreditbanka zusammenzuarbeiten. Am 3. Oktober 1935 verabschiedete das Kabinett von Ulmanis jedoch ein Gesetz, das es Latvijas Kreditbanka erlaubte, alle kommerziellen und industriellen Firmen, die ihre finanziellen Verbindlichkeiten nicht bedienen konnten, zu liquidieren.11  Das verschaffte der Bank die Möglichkeit, die Inhaber von Laima zur Firmenaufgabe zu zwingen. Sie übernahm Laima 1936 und wandelte die Süßwarenfabrik in ein staatseigenes Unternehmen um. Als die Schokoladenfabrik Riegert 1937 das gleiche Schicksal ereilte, wurden Riegert und Laima dann fusioniert. Das Gründungsjahr 1870, mit dem Laima bis heute wirbt, übernahm die Marke übrigens von der Firma Riegert.
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Die jüdischen Firmengründer von Laima emigrierten nach Palästina. 1932 bzw. 1933 – das genaue Datum lässt sich aus den Akten nicht ermitteln – war bereits Elja Fromtschenko nach Palästina ausgewandert und hatte von dort aus den Handel mit Laima-Süßwaren organisiert. Er war 1934 einer der Mitbegründer der jüdischen Firma Elite Palestine Chocolate & Sweets Manufacturing Co. Ltd. in Ramat-Gan/Tel Aviv. Seine Rigaer Geschäftspartner schlossen sich ihm nach ihrer Umsiedlung an. Die Laima-Firmengründer nahmen auch Maschinen aus Riga mit nach Palästina und setzten sie dort in der neuen Elite-Fabrik ein. Elite unterhielt weiter Geschäftskontakte mit Laima unter deren neuer, lettischer Firmenleitung und importierte für die Herstellung seiner Süßwaren aus Lettland Rohstoffe, die in Palästina nicht oder nur schwer verfügbar waren, beispielsweise Kirschsaft.12  Laima wurde zunächst als lettisches, schließlich als sowjetisches Staatsunternehmen weitergeführt. Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands 1990/91 erfolgte die erneute Privatisierung und 2014 der Verkauf an den norwegischen Konzern Orkla. Heute ist Laima die größte Süßwarenfabrik im Baltikum.